Das verschwundene Kapitel aus dem Buch „Archipel Gulag"

Artikel von Irakli Betchvaia

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Den folgenden Abschnitt aus dem Buch Solschenizyns habe ich in der gekürzten deutschen Ausgabe nicht gefunden. Habe es deswegen selbst übersetzt. Was denkt Ihr, warum haben die Redakteure ausgerechnet diesen Teil entfernt?

Im September 1955 hat die „Literarische Zeitung“ (die mutig über alles mögliche Ihre Meinung geäussert hat, nur nicht über die Literatur) in einem langen Artikel Krokodilstränen über folgende Ereignisse vergossen: auf einer Strasse in Moskau vor den Fenstern zweier Familienhäuser wurde mit viel Lärm ein Mann ermordet. Später hat man festgestellt, beide Familien (Unsere! Sowjetische!) wurden geweckt. Sie schauten aus den Fenstern, sind aber nicht zur Hilfe gekommen: die Ehefrauen haben ihre Ehemänner nicht herausgelassen. Einer ihrer Nachbarn (möglicherweise wurde er auch geweckt, aber darüber schweigt die Presse), Mitglied der Partei seit 1916, ehemaliger Oberst (vermutlich vor Faulheit schmachtend) hat die Bürde auf sich genommen, die Öffentlichkeit blosszustellen. Er sucht die Redaktionen und Gerichte auf mit der Forderung, beide Familien als Mittäter anzuklagen!

Der Journalist donnert ihm Entgegen: das ist zwar nicht strafbar, aber — Schande! Schande!

 

 

Ja, Schande, aber für wen? Wie immer in unserer parteiischen Presse wird über alles berichtet, nur nicht über das Wichtigste. Darüber, dass:

 

  1. „Voroschilovs“ Amnestie vom 27. März 1953 hat um die Popularität des Volkes zu gewinnen, das Land mit einer Welle von Mördern, Banditen und Dieben überschwemmt, die mit Mühe nach dem Krieg eingefangen wurden. (Einen Dieb begnadigen ist einen Guten zugrunde richten.)

2. Im Strafgesetzbuch (vom 1926) gibt es das absurde Artikel 139 „über den Maß der Notwehr“ — Du darfst das Messer nicht ziehen, bevor Dein Gegner seinen Messer gegen Dich gerichtet hat. Und auf ihn einstechen nicht bevor er auf Dich eingestochen hat. Sonst wirst Du vor Gericht gestellt! (Aber einen Artikel darüber, dass der größte Verbrecher derjenige ist, der einen schwächeren angreift, gibt es nicht!..) Diese Angst die Notwehr zu überschreiten führt zur vollständigen Entspannung auf der nationalen Ebene. Ein Hooligan fing vor einem Club einen Rotarmisten Alexander Sacharov zu schlagen. Sacharov hat einen Taschenmesser gezogen und den Angreifer getötet. Die Strafe dafür war - 10 Jahre, wie für einen gemeinen Mord! „Was hätte ich denn tun sollen?“ — fragte er verwundet. Der Staatsanwalt antwortet: „Weglaufen!“ — WER züchtet denn hier die Hooligans?

 

3. Laut dem Strafgesetzbuch verbietet der Staat es den Bürgern Feuer- oder Stichwaffen zu besitzen — kümmert sich aber auch nicht um ihren Schutz! Der Staat überlässt eigene Bürger den Banditen — und besitzt noch die Frechheit sie über die Presse zum „öffentlichen Widerstand“ gegen diese Banditen aufzurufen! Widerstand womit? Den Regenschirmen? Den Nudelhölzern? — Erst haben sie die Banditen erschaffen, dann fingen sie an, die Bürgerwehr gegen sie zu organisieren, die wiederum ausserhalb des Gesetzes handelnd, manchmal selbst zum Banditen mutiert. Dabei wäre es doch so einfach von Anfang an sie zu zwingen, „ihre Köpfe under dem Joch des Gesetzes zu beugen“! So die einzig richtige Lehre.

 

Was würde denn passieren, wenn diese Ehefrauen ihre Ehemänner gelassen hätten, und diese mit den Stöcken hinausgerannt wären? Entweder hätten die Banditen sie getötet, was am wahrscheinlichsten wäre, oder sie hätten die Banditen getötet und wären ins Gefängnis gewandert wegen der Überschreitung der Notwehr. Der Oberst bei seinem morgendlichen Gassigehen mit dem Hund hätte dieses Ereignis in beiden Fällen genossen.

 

Die Eigeninitiative dagegen, wie im französischen Film „Monsieur Dupont“, wo die Arbeiter ohne den Staat zu informieren die Diebe selbst fangen und auch selbst bestrafen, — wäre so eine Eigeninitiative bei uns nicht als Willkür unterbunden? So ein Gedankengang und so ein Film — wäre das bei uns überhaupt möglich?

 

 

Der Archipel GULAG - Alexander Solschenizyn





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