Der Mindestlohn auf dem Prüfstand

Ein Beitrag von Bettina Lohr und Mathias Hummel

Die Bundestagswahl liegt hinter uns und wieder konnten sich CDU und SPD über verhältnismäßig große Zustimmung freuen, denn beinahe die Hälfte aller Wähler sprachen sich für eine der beiden Parteien aus.1 Eine der Forderungen, mit der die SPD für sich geworben hatte, betraf dabei die Lohnpolitik. Angesichts des Wahlerfolgs der Partei trifft der Vorstoß zur Anhebung des Mindestlohns allem Anschein nach auf eine wohlwollende Haltung in der Bevölkerung. Ein weiteres Indiz dafür, dass es wohl mal wieder an der Zeit ist für eine Grundsatzdiskussion.

Wir, die PdV, stellen uns dieser Aufgabe und werden im Anschluss den Mindestlohn einer genaueren Prüfung unterziehen. Ausgerüstet mit den Arbeitsmarktdaten des Statistischen Bundesamtes werden wir heute, sieben Jahre nach dem Beschluss des „Tarifautonomiegesetzes“, herausfinden, ob die Einführung des Mindestlohns maßgeblich zum anvisierten, paradiesischen Zustand beigetragen hat – oder eben nicht.

Durchaus bunt gestaltete sich der Strauß aus Zielen, denen man über die Einführung des Mindestlohns näher zu kommen gedachte: Eine Ankurbelung der Wirtschaft wurde sich dadurch versprochen,2 die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme sollte gestärkt werden3 und zur allgemeinen Fairness sollte das Gesetz auch noch beitragen! So liest es sich in Paragraph 9 Absatz 2, dass über das Tarifautonomiegesetz „faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen […] ermöglich[t]“4, Stellen bewahrt5 und sogar die Wertschätzung der Arbeit gesteigert werden sollte.6 Wohl gemerkt – Es handelt sich bei dieser Beschreibung nicht um die nachgesagte, populärwissenschaftlich akkreditierte Wirkkraft von Kokosöl, Kurkuma oder Quinoa, sondern um eine mit Steuergeld finanzierte politische Komposition der GroKo! Glücklicherweise kann anhand der vorliegenden Daten gezeigt werden, welche dieser Zuschreibungen sich bewahrheiten konnten. Bei der Betrachtung des vierjährigen Zeitraums seit Einführung des Mindestlohns gelangten wir zu folgenden Erkenntnissen:

  • Insgesamt konnte sich die BRD von 2014 bis 2018 über eine Lohnanhebung im Niedriglohnsektor freuen. 2018 waren dort weitaus weniger Menschen in Vollzeit beschäftigt als noch 2014.
  • Auch eine generelle Zunahme der allgemeinen Beschäftigung konnte beobachtet werden – allerdings vorwiegend über neu geschaffene Teilzeit- statt Vollzeitstellen.

Und das führt auch bereits zu unserer Kritik: Während sehr wohl neue Teilzeitstellen entstanden, gingen nicht wenige Vollzeitstellen im Niedriglohnsektor ersatzlos verloren. In folgender Abbildung sieht man anschaulich, dass es besonders im Niedriglohnsektor einen deutlichen, flächigen Unterschied gibt, die die Anzahl der Arbeitnehmer ausweist. Unterm Strich steht, dass die Einführung des Mindestlohns von 2014 bis 2018 1,8 Millionen Stellen zerstört hat.

Nun kann man diese Fakten unterschiedlich bewerten.

Optimistisch gesehen arbeiten die Deutschen jetzt für mehr Geld, was bedeuten könnte, dass die Unternehmer deren Leistung nun tatsächlich besser wertzuschätzen wissen. Und das würde ja bedeuten, dass auf eines der Ziele mit Hilfe des Mindestlohns erfolgreich hingearbeitet wurde.7

Weiterhin ist es nun auch für einen Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor wahrscheinlicher als Teilzeit-, statt als Vollzeitkraft angestellt zu werden. Für den Arbeitnehmer wurde also Lebenszeit freigeräumt, die er nutzen kann, um eine zweite Tätigkeit aufzunehmen und seine Lage so langfristig zu verbessern. Insgesamt könnte die Maßnahme also tatsächlich einen wirtschaftssteigernden Effekt gehabt haben, denn durch die finanzielle Besserung bei den Geringverdienern sind diese ermächtigt worden mehr am Konsum teilzuhaben und konnten dementsprechend helfen die Wirtschaft anzukurbeln – soweit die Logik.

Betrachtet man die Lage allerdings weitsichtiger ergibt sich ein ganz anderes Bild.

In der obigen Abbildung haben wir grafisch herausgestellt und darüber festgestellt, dass die Ausprägung der Lohnstruktur, ungeachtet des Anstiegs der Gehälter nach 2014, im Prinzip die Gleiche geblieben ist. Es kann weder von einer Stärkung des Mittelstands und einer politisch herbeigeführten Schmelze des Niedriglohnsektors gesprochen werden, noch ist fraglich, ob die Anhebung der Löhne bei Abzug der Inflation überhaupt noch existieren würde. Denn was 2014 noch 9,99 Euro wert gewesen war, hatte 2018 schon lange die 10,00 Euro Grenze überschritten.

Und was ist mit der Stärkung der sozialen Sicherungssysteme? Leider ist auch hier fraglich, ob man diesem Ziel nähergekommen ist. Die Arbeitsstellen, die gestrichen wurden, waren oft sozialversicherungspflichtig, was nicht nur zu sinkenden Einnahmen in den Sozialkassen, sondern auch noch zu einer Mehrbelastung durch die erhöhte Anzahl an Arbeitslosen und Aufstockern führte. Oben stehende Grafik zeigt dazu anschaulich die ersatzlos weggebrochenen Vollzeitstellen, von denen nun keine Beiträge mehr in die Sozialkassen flossen. Diese Mehrbelastung, die nur zu einem Bruchteil über die höheren Steuereinnahmen aus den neu geschaffenen Beschäftigungsverhältnissen wieder eingespielt werden konnte,8 wird zumindest unserer Definition von „Stabilisierung“ nicht gerecht.

Aber zumindest dem Ziel „die Arbeit aller Menschen wertzuschätzen“9 konnte nähergekommen werden, oder? Immerhin wurden 2018 Tätigkeiten im Niedriglohnbereich besser vergütet als noch 4 Jahre zuvor.

Da möchten wir Sie fragen: Würde das für Sie Sinn ergeben? Stellen Arbeitgeber eine Arbeitskraft, die sie noch 2013 für sechs Euro hätten arbeiten lassen, nun auch für 10 Euro ein? Und das schlicht aus dem Grund, weil es nun ein Gesetz gibt, was besagt, dass die Arbeit mehr zu schätzen sei? Wahrscheinlicher ist doch, dass angesichts des Wegbrechens von Stellen, einige Niedriglohnstellen zu einer einzigen verschmolzen wurden und sich der Arbeitsaufwand für Mindestlöhner, die nun auch noch die Aufgaben ihrer vormals geringer bezahlten Kollegen übernehmen mussten, sogar noch erhöht hat. Die Arbeitslast wurde nicht weniger, wohl aber die Anzahl der bezahlten Stunden. Ob dadurch die Leistung von Niedrigverdienern tatsächlich mehr geschätzt wird als noch 2014 ist zweifelhaft.

Wenig überraschend lautet unser Fazit daher: Das Tarifautonomiestärkungsgesetz konnte weder die Wirtschaft ankurbeln noch die sozialen Sicherungssysteme stabilisieren. Es war weder in der Lage den Niedriglohnsektor zu schmälern,10 noch den Arbeitnehmer vor „unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen“11.

Warum wird die Maßnahme also kaum kritisiert? Im Gegenteil scheint die breite Bevölkerung zufrieden mit der Entwicklung der letzten Jahre zu sein. Während es 2010 noch 70% waren, die den Mindestlohn befürworteten12 berichtete man im Jahr 2017 schon von 85-prozentiger Zustimmung.13 Kaum verwunderlich erscheint es in diesem Zusammenhang, dass es sich im vergangenen Bundestagswahlkampf 2021 weder Linke noch SPD nehmen ließen mit noch höheren Forderungen an den Mindestlohn aufzutrumpfen.14 Obwohl es vereinzelte Gegenstimmen gibt, die davor warnen mit einem solchen Schritt Existenzen aufs Spiel zu setzen, scheinen solche Mahnungen nicht auf genügend geneigte Ohren zu stoßen.15 Und vielleicht liegt es auch an der generellen Informationsauswertung. Die Universität Duisburg-Essen bewertet den Mindestlohn etwa als „Erfolgsgeschichte“, der „keine erkennbaren negativen Auswirkungen auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder die Entwicklung der Arbeitslosigkeit“ gehabt habe.16 Wahrscheinlich haben hier die knapp zwei Millionen weggebrochenen Niedriglohnstellen in den Augen der Universität einfach die Grenze zur „negativen Auswirkung“ nicht geschafft. Und generell kann man sich ja auch nicht um jede Kleinigkeit kümmern! Wen interessieren schon zwei Millionen Arbeitslose mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt, wenn dafür die anderen Klassenmitglieder zwei Euro mehr in der Tasche haben?